Article: Lexikographie - die Kategorie gesprochensprachlich

Published in: Fremdsprachen und Hochschule (FuH) 70 (2004), 70-82.
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Die Aufnahme der Kategorie gesprochensprachlich in die Wörterbücher des Deutschen – ein methodisch-didaktisches Desiderat der heutigen Lexikographie mit Blick auf den universitären Fremdsprachenerwerb
Thomas Tinnefeld (Göttingen)

0. Einleitung

Eine mittelfristig unabdingbare Voraussetzung für die Optimierung des Hilfsmittels Wörterbuch ist die Erfüllung des folgenden Desiderats: In alle einsprachigen Wörterbücher des Deutschen[1] sollte die Bewertungskategorie gesprochensprachlich aufgenommen werden. Diese Kategorie, die bemerkenswerterweise bislang weder im Duden-Universalwörterbuch noch im Wahrig erscheint, obwohl sie dort längst überfällig ist, würde den Benutzerinnen und Benutzern eine bessere, eine genauere Orientierung hinsichtlich solcher Lexeme und Ausdrücke ermöglichen, die eine starke Affinität zur gesprochenen Sprache aufweisen und aus diesem Grunde als nicht-schriftsprachlich zu definieren sind.

Bei aller Vorsicht hinsichtlich der prinzipiellen Anfechtbarkeit solcher Bewertungen – die zudem in unterschiedlichen Wörterbüchern durchaus differieren können und mit Blick auf andere stilistische bzw. Registerbewertungen auch tatsächlich differieren – ergibt sich nur unter Aufnahme dieser Kategorie die Möglichkeit, den Benutzern eine mehr oder minder gesicherte Information über das auf die jeweilige Sprachebene bezogene Verwendungspotential von Lexemen bereitzustellen. Bie bislang benutzten Bewertungen wie beispielsweise fachsprachlich, gehoben, hochdeutsch, offiziell, schriftsprachlich, Studentensprache
umgangssprachlich/Umgangssprache, vulgär [2] (vgl. Duden-Universalwörterbuch 2003, 23f)
sind auf der Basis unserer Überlegungen als nicht hinreichend zu betrachten.

Im Folgenden sei zunächst eine Analyse des Ist-Standes vorgelegt, die sich in eine theoretische Darstellung des Problems und seine praktische Exemplifizierung untergliedert (Kap. 1). Hieran schließt sich eine Darstellung der Möglichkeiten der Verbesserung der Wörterbücher des Deutschen durch die Integration der Kategorie gesprochensprachlich an. Darauf, dass sich durch diese Maßnahme ein erhebliches Verbesserungspotiential bietet, sei bereits an dieser Stelle hingewiesen. Zusammenfassende Überlegungen schließen unseren Beitrag im Sinne eines Fazits ab.

1. Analyse des Ist-Standes

1.1 Theoretische Problemstellung

Die aus denjenigen Bewertungen, die auf die Kategorie gesprochensprachlich verzichten, resultierende Problematik sei anhand der beiden Kategorien, die das Problem noch am wahrscheinlichsten lösen können, aufgezeigt. Bei diesen handelt es sich um die Kategorien schriftsprachlich und umgangssrpachlich/Umgangssprache.

Die Kategorie Schriftsprache ist dabei folgendermaßen definiert:

Hoch-, Standardsprache in der (bestimmten sprachlichen Gesetzmäßigkeiten folgenden) schriftlichen Form
(Duden- Universalwörterbuch, 2003, 1407)

Die dieser Kategorie inhärente Problematik besteht darin, das sie hinsichtlich der Unterscheidung geschrieben vs. gesprochen nicht hinreichend trennscharf ist: Alle diejenigen Lexeme, die schriftsprachlich und durch das Wörterbuch als solche ausweisbar sind, können potentiell auch in gesprochener Sprache verwendet werden, ohne dass sie dadurch inkorrekt oder inadäquat würden. Im Unterschied dazu sind nicht alle Lexeme, die primär der gesprochenen Sprache zuzurechnen sind, ohne weiteres schriftsprachlich verwendbar. Zu dieser grundsätzlichen Problematik tritt der Gesichtspunkt der höheren type-token-Relation der Schriftsprache, die sich im Vergleich zur gesprochenen Sprache durch eine höhere lexikalische Varianz auszeichnet. Aus diesem Grunde wäre es notwendig, ungleich mehr Wörterbucheinträge mit der Kategorie schriftsprachlich zu belegen, als es für die Kategorie gesprochensprachlich gelten würde.

Diejenige Kategorie, die angesichts dieser Sachlage Abhilfe schaffen könnte, ist die Bewertung umgangssprachlich. Dabei ist der Begriff Ungangssprache wie folgt definiert:

1 a) Sprache, die im täglichen Umgang mit anderen Menschen verwendet wird; zwischen
Hochsprache und Mundart stehende, von regionalen, soziologischen, gruppenspezifischen
Gegebenheiten beeinflußte Sprachschicht.
b) nachlässige, saloppe bis derbe Ausdrucksweise; Slang
2. Sprache, in der eine Gruppe miteinander umgeht, sich unterhält.
(Duden-Universalwörterbuch 2003, 1638)

Sieht man vom zweiten Defitionsteil als im gegebenen Rahmen sekundär ab, ergeben sich die folgenden Zusammenhänge:

- Während die Positionierung der Umgangssprache zwischen Hochsprache und Mundart als für unsere Zwecke hilfreich interpretiert werden kann, trifft dies auf ihre potentielle Beeinflußbarkeit von „regionalen, soziologischen, gruppenspezifischen Gegebenheiten“ nicht zu: Diese repräsentieren nicht das ausschlaggebende Kriterium der Unterscheidung zwischen geschriebener und gesprochener Sprache. Gesprochene Sprache ist vielmehr durch das Faktum gekennzeichnet, dass sie nicht schriftsprachlich verwendet werden kann. Diese Blockade kann durch solche Gegebenheiten, wie sie in der Definition genannt sind, bedingt sein, sie ist es jedoch in der Regel nicht. Gesprochene Sprache ist viel mehr als ein Bündel einzelner Lexeme, die regional, soziologisch und/oder gruppenspezifisch markiert sind: Sie zeichnet sich vielmehr zu einem beachtlichen Teil durch solche Sprachphänomene aus, die als überregional, asoziologisch und nicht gruppenspezifisch einzustufen sind. Der Begriff Umgangssprache greift somit im Hinblick auf die vorliegende Problematik zu kurz;

- Der unter 1b) genannte Definitionsteil entspricht nicht dem Konzept, das mit gesprochener Sprache gleichgesetzt werden kann: Es würde der gesprochenen Sprache nicht gerecht, sie ausschließlich pejorativ als „nachlässige, saloppe bis derbe Ausdrucksweise“ oder als „Slang“ einzustufen.

Aus diesen Ausführungen wird deutlich, dass die beiden Kategorien Schriftsprache und Umgangssprache/umgangssprachlich das sich stellende Problem nicht zu lösen vermögen Unsere Überlegungen erhärten die Forderung, die Kategorie gesprochensprachlich in einsprachige Wörterbücher integrieren und mit aller Konsequenz auf solche Lexeme anzuwenden, die prioritär oder tendenziell in der gesprochenen Sprache verwendet werden. Mit Hilfe dieser Maßnahme könnte den Wörterbuchbenzutzern eine beachtlich Orientierungshilfe hinsichtlich ihrer eigenen Sprachverwendung zur Verfügung gestellt werden.

Unser bisheriges Zwischenergebnis soll nach dieser theoretischen Darlegung im Folgenden anhand konkreter Beispiele untermauert werden.

1.2 Exemplifizierung des Problems

Die folgenden Ausführungen zeigen, von welch großer Bedeutung die Umsetzung unserer Forderung auch in praktischer Hinsicht ist. Ausgewählt seien zwei Beispiele, die eindeutig der gesprochene Sprache angehören, bei denen diese Zuordnung im Wörterbuch jedoch nicht verzeichnet ist.

Das erste Beispiel entstammt der deutschen Sportsprache. Es ist unschwer festzustellen, dass in Radiokommentaren, nicht dagegen in der Zeitungssprache, der Fußball – das Objekt, mit dem gespielt wird, nicht der Sport selbst – bisweilen ans das Leder bezeichnet wird. Selbst diejenigen Sprachbenutzer, denen der sprachliche Zusammenhang zwischen diesem Lexem und der gesprochenen Sprache nicht klar wäre, fänden, so sie das Wörterbuch konsultierten, beispielsweise im Duden-Universalwörterbuch (1989, 938) unter dem Eintrag Leder Beispiele wie: „er drosch das L. ins Tor“. Dieses Lexem ist allein aufgrund dieses Beispiels in seiner fußballsprachlichen Verwendung als gesprochensprachlich einzustufen: Es wäre höchst unwahrscheinlich, das Verb dreschen in geschriebensprachlicher Sportberichterstattung zu finden. Dieser Umstand verweist darauf, dass auch das Substantiv Leder der gesprochenen und nicht der geschriebenen Sprache zuzurechnen ist. Sicherlich besteht eine Orientierungshilfe für die Benutzer und Benutzerinnen darin, dass das Duden-Universalwörterbuch dieses Lexem als „Fußballjargon“ einstuft. Es ist jedoch zu fragen, ob diese Einstufung einem schriftsprachlichen Gebrauch dieses Lexems prinzipiell entgegensteht. Könnte nicht vielmehr ein „Abgleiten“ in den Fußballjargon auch schriftsprachlich toleriert und dort ganz bewußt zum Ausdruck bestimmter Stilmitel genutzt werden? Da ein Ausschlusscharakter im Hinblick auf die gesprochene Sprache allein aufgrund dieser Kategorisierung nicht mit hinreichender Sicherheit gewährleistet wird, ist zu fordern, dass der Eintrag zu diesem Lexem durch die Qualifizierung gesprachensprachlich zu ergänzen ist. Nur unter dieser Bedingung ist eine zufriedenstellende Einordnung des Lexems Leder in die Fußballsprache gegeben. Nur unter dieser Bedingung erhalten die Sprachbenutzer hinreichend exakte, eindeutige Informationen über die registerspezifisch adäquate Verwendung dieses Lexems. Anstatt jedoch solche Überlegungen in späteren Auflagen umzusetzen, ist das Duden-Universalwörterbuch einen anderen, einen reduktionistischen Weg gegangen. In seiner aktuellsten, der fünften, Auflage aus dem Jahre 2003 fehlt jegliches Beispiel dieses Lexems in der beschriebenen Verwendung. Als Erläuterung figuriert dort lediglich „(Fußball Jargon) Fußball“ (2003, 1002). Eine Erklärungsmöglichkeit für dieses reduktionistische Verhalten der Redaktion mag in einer simplen Einsparung an Platz – und somit auch Geld – zu sehen sein, was allein negativ genug wäre. Eine andere Möglichkeit könnte diejenige sein, dass die Autoren des Wörterbuches selbst hinsichtlich der Einstufung und der kontextuellen Einbettung dieses Lexems Unsicherheiten zeigten und somit auf jegliche Kontextualisierung verzichtet haben. In beiden Fällen ist der Gebrauchswert der Wörterbuches – in bezug auf diesen Bereich – deutlich eingeschränkt. Der hier dargelegt Tatbestand stützt unsere Forderung durch die von der Redaktion gewählte Form „beredten Schweigens“ nachdrücklich.

Ein weiteres Beispiel, das unsere Argumentation bekräftigt, stellt das Verb tagen dar. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Verwendung dieses Verbs zum Ausdruck eines informellen, meist längeren und oft feucht fröhlichen Treffens als gesprochensprachlich gelten kann. Auch zur Klärung dieses Problems seien wieder die Beispielsätze des einsprachigen Wörterbuches herangezogen. So gibt das Duden-Universalwörterbuch (2003, 1558) das Beispiel: „wir haben noch bis in den frühen Morgen hinein getagt“ und klassifiziert diesen Gebrauch als Übertragung der Bedeutung des Verbs tagen in dem Sinne „eine Tagung, Sitzung abhalten“. Zusätzlich wird – als synonyme Umschreibung – die registerneutrale Formulierung „waren fröhlich beisammen“ angeführt. Wahrigs dtv-Wörterbuch der deutschen Sprache gibt in Ergänzung des Beispielsatzes „wir tagten bis zum frühen Morgen“ die Umschreibung „in Gesellschaft trinken, zechen“ (1987, 765). Auf den gesprochensprachlichen Charakter dieses Verbs könnten – zusätzlich zu seiner Bedeutung – sowohl die Auswahl der gegebenen Beispielsätze als auch die jeweiligen synonymen Umschreibungen verweisen. Das Problem besteht jedoch darin, dass die Beispielsätze weitgehend neutral gehalten sind und auch aus den paraphrasierenden Erklärungen nicht immer eindeutig entnommen werden kann, dass dieses Verb der gesprochenen Sprache zuzurechnen ist. Das Verb tagen mag somit von kompetenten Benutzern aufgrund ihres Sprachgefühls und der in den Beispielsätzen evozierten situationalen Kontextualisierung dem gesprochenen Deutsch zugeordnet werden. Eine eindeutige Hilfestellung bei dieser Zuweisung leistet das Wörterbuch jedoch nicht. Auch an diesem Beispiel wird deutlich, wieviel mehr an Klarheit das Wörterbuch seinen Benutzern vermitteln könnte, wenn die Kategorie gesprochensprachlich dort integriert und angewendet würde.

Diese beiden Beispiele – die sich unproblematisch durch wietere ergänzen ließen – unterstreichen unsere Forderung nachdrücklich: Wörterbücher, denen diese zentrale Kategorie fehlt, können den sie konsultierenden Sprechern und Sprecherinnen des Deutschen auf der Registerebene keine hinreichende Orientierung bieten. Diese Situation ist umso unbefriedigender, als die Integration dieser Kategorie zugleich mit einer erheblichen Qualitätsverbesserung der Wörterbücher selbst einher gehen würde. Dieser Gesichtspunkt wird im Folgenden näher beleuchtet.

2. Verbesserung der Wörterbücher durch die Aufnahme der Kategorie gesprochensprachlich

Die Möglichkeiten der Verbesserung der in den gängigen Wörterbüchern des Deutschen vorgenommenen registerspezifischen Bewertungen durch die Aufnahme der Kategorie gesprochensprachlich sind vielfältig. Im Rahmen dieses Beitrags sollen jedoch lediglich die drei in diesem Zusammenhang zentralen Bereiche herausgestellt werden. Dabei handelt es sich um Möglichkeiten der Verfeinerung des lexikographischen Analyseintrumentariums, die durch die vorliegende Kategorie ermöglichte, striktere Trennung zwischen geschriebener und gesprochener Sprache und schließlich um einige wichtige didaktische Konsequenzen.

2.1 Verfeinerung des lexikographischen Analyseinstrumentariums

Die Ausführungen in 1.2 haben gezeigt, dass in lexikographischer Hinsicht Gesprochensprachliches nicht gleich Umgangssprache sein muss. Diese Feststellung kann auf die Ebenen der Syntax, der Semantik sowie des Textes hin erweitert und auch auf den Bereich der Pragmatik bezogen werden. Es entspräche somit einer Vergröberung der sprachlichen Realität, gesprochene Sprache mit Umgangssprache gleichzusetzen, was in der Linguistik weder wünschenswert ist noch beabsichtigt wird. Eine Verfeinerung des Bewertungsinstrumentariums erscheint daher gegenwärtig dringend empfohlen (vgl. Tinnefeld 1999): Durch die Aufnahme der Bewertungskategorie gesprochensprachlich in die Wörbterbücher des Deutschen eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten für eine genauere und qualitativ adäquatere Beschreibung des Wortschatzes.

Dabei ist es ein Ziel dieses Artikels, den Lexikogaraphen und Lexikographinnen bewußt zu machen, dass die erwähnte Verfeinerung des Bewertungsinstrumentariums allein durch diese Kategorie eine erhebliche Verbesserung erfährt. Gerade die Kategorie gesprochensprachlich deckt einen bisher ungefüllten Bereich ab, dessen Berücksichtigung einen Schwachpunkt der bestehenden Lexikographie kompensieren würde. Die Beseitigung dieser Leerstelle brächte somit eine erhebliche Steigerung der Gebrauchsqualität der Wörterbücher mit sich. In der hier aufgezeigten Art und Weise kann die Lexikographie unter Beweis stellen, dass erkannt worden ist, dass sie sich ständig weiterentwickeln und der Sprache anpassen muß. Dabei sei betont, dass es sich nicht um irgendeine, sondern um eine zentrale Kategorie der Register- und Stilbewertung handelt. Diese Einschätzung wird evident, wenn man sich vergegenwärtigt dass sie in pragmatischer Sicht auf eine zentrale Unterscheidung abhebt – die Differenzierung zwischen geschriebener und gesprochener Sprache -, die sich auf alle denkbaren Kommunikationsebenen sowie Kommunikationssituationen auswirkt und sich auf potentiell jede Äußerung bezieht.

Zwei Beispiele mögen diesen Sachverhalt verdeutlichen. Sie sind bewußt so gewählt, dass jeweils aus der Perspektive der beiden unterschiedlichen Register – einmal aus derjenigen der geschriebenen Sprache und einmal aus derjenigen der gesprochenen Sprache – argumentiert wird, um auf diese Weise die prinzipielle Komplementarität des registerspezifisch adäquaten Sprachgebrauchs deutlich werden zu lassen. So wäre eine Äußerung wie:

"In dem vorliegenden Satz fällt die verkehrte Verwendung der Passivkonstruktion auf"

in der deutschen Schriftsprache problematisch. Im Rahmen einer mündlichen Diskussion in einer Runde sprachinteressierter Zeitgenossen wäre sie dagegen trotz ihrer stilistischen Heterogenität – man vergleiche ihre syntaktische Qualität „In dem vorliegenden Satz fällt die (...) Verwendung der Passivkonstruktion auf“ einerseits und das Adjektiv „verkehrt“ andererseits – durchaus tolerierbar. In einem solchen Fall muss die Lexikographie mit Hilfe der von ihr entwickelten Wörterbücher die grundsätzliche Problematik der Verwendung des Adjektivs verkehrt im geschriebenen, gegebenenfalls fachsprachlich orientierten Deutsch aufzeigen und es den Benutzern ermöglichen, es durch eine angemessenere, schriftsprachlich akzeptablere Ausdrucksweise zu ersetzen (vgl. z. B. inkorrekt, fehlerhaft, falsch, ggf. inadäquat). Gegenwärtig geschieht jedoch nichts dergleichen, denn die maßgeblichen Wörterbücher des Deutschen verzichten bei einer solchen Verwendung ganz auf eine Bewertung[3].

Umgekehrt wäre eine Äußerung wie:

"Das Aggressionspotential Jugendlicher steigt stetig an"

in informeller gesprochener Sprache – wiederum etwa in einer fröhlichen Kneipenrunde – als mehr oder minder inadäquat zu bezeichnen, da sie aufgrund ihrer „hochgestochenen“ Formulierung situational deplaziert wirken würde. In einem solchen Fall würde es auch nicht hinreichen, wenn im Wörterbuch zu dem Ausdruck „Aggressionspotential“ lediglich die Bewertung fachsprachlich gegeben wäre[4]. Hinzutreten müßte hier - in Komplementarität zu der für die umgekehrte Argumentationsrichtung gültigen Kategorie gesprochensprachlich vielmehr ein Hinweis darauf, dass dieser Ausdruck eine deutliche Tendenz zu der Verwendung in geschriebener Sprache aufweist. Nur durch einen solchen Zusatz wird mit Hilfe des Wörterbuches ein registerspezifisch weitgehend homogener Sprachgebrauch sichergestellt.
Die prinzipielle Bedeutung einer lexikographisch exakteren Erfassung der Unterscheidung zwischen geschriebener und gesprochener Sprache (vgl. auch 2.2) wird an diesen beiden Beispielen zweifelsfrei deutlich.

Von Bedeutung ist über die genannten Gesichtspunkte hinaus, dass diese Unterscheidung, die im Bereich des Deutschen bisher sträflich vernachlässigt worden ist, im Bereich der Romania – und hier besonders im Französischen – eine zentrale Kategorie darstellt[5]. Aus dieser Perspektive betrachtet, haben die in Deutschland betriebene Germanistik und die deutsche Lexikographie einen erheblichen Nachholbedarf[6].

2.2 Ermöglichung einer strikteren Trennung zwischen geschriebener und gesprochener Sprache

Ein dringendes Desiderat besteht auch hinsichtlich der Konkretisierung des unscharfen Bereiches, in dem lexikalisches und syntaktisches Inventar soeben nicht mehr der geschriebenen, sondern gerade schon der gesprochenen Sprache angehört. Im diesem Bereich tritt erschwerend das Phänomen hinzu, dass es sich vielfach um Lexeme und Konstruktionen handelt, die - kontextuell unterschiedlich – dem einen oder dem anderen Register angehören können. So ist ein Lexem wie das deutsche Adverb heftig eindeutig als registerneutral – also auch für eine schriftsprachliche Verwendung tauglich – einzustufen, wie beispielsweise in dem Satz „Es regnete heftig“. Das Adjektiv gleicher Form ist dagegen in der deutschen Jugendsprache in einer Vielzahl von Kontexten unmißverständlich dem gesprochenen Deutsch zuzuordnen. Man vergleiche hierzu die Äußerung über eine Klausur: „Die erste Aufgabe war aber heftig, in der heftig im Sinne von ‚schwierig‘ verwendet wird. In einem solchen Falle spielt somit die Verwendung in unterschiedlichen Kontexten eine Rolle für die Zuordnung des Lexems zum neutralen (also potentiell geschrieben- und gesprochensprachlichen) Register einerseits und zum ausschließlich gesprochensprachlichen Register andererseits. Auch in diesem Fall ist von Wörterbüchern des Deutschen keine Hilfe zu erwarten: Die rein gesprochensprachliche Verwendung dieses Lexems erscheint dort nicht einmal in Form von Beispielen (vgl. z.B. Duden-Universalwörterbuch 2003, 732).

Die lexikographisch klare Trennung von geschriebener und gesprochener Sprache ist von besonderer Bedeutung in einer Zeit, in der die Schriftsprache immer mehr und immer öfter gesprochensprachlich realisiert wird. So konnte in einer eigenen Untersuchung (vgl. Tinnefeld 1999) festgestellt werden, dass Studierende immer weniger in der Lage sind, zwischen geschriebener und gesprochener Sprache im Deutschen – also ihrer Muttersprache (!) – zu unterscheiden. Dieses Unvermögen führt dazu, dass die von ihnen produzierten schriftlichen Texte von gesprochensprachlichen Elementen durchsetzt sind, was deren Qualität drastisch herabsetzt: Hinzu kommt, dass in den schriftlichen fremdsprachigen Texten dieser Studierenden das gleiche Phänomen anzutreffen ist, so dass im L2-Bereich nicht nur Fehler auftreten, die mit dem unterschiedlichen System der Fremdsprache zusammen hängen, sondern auch solche, die aus der ungenauen Registerunterscheidung innerhalb der Muttersprache resultieren, wobei die entsprechenden Strukturen dann als negativer Transfer unbefragt in die Fremdsprache übernommen werden. Diese hier sehr kurz gehaltenen Ausführungen[7] lassen erahnen, welche enormen Konsequenzen die mangelnde Registerunterscheidung für die Studierenden hat, da sie nicht nur auf die Muttersprache beschränkt ist, sondern sich potentiell auf jede Fremdsprache negativ auswirkt, die diese erlernen.

Dieser Tendenz muß lexikographisch entgegengewirkt werden, um den Sprachbenutzern Bewertungssicherheit zu geben. So wurde und wird in Deutschland hinsichtlich der Frage eines korrekten Sprachgebrauchs vorwiegend über die Orthographie und ihre in mehr oder minder einschneidender Weise erfolgte Reformierung gesprochen. Dagegen wird nicht erkannt, dass sich auf einer ganz anderen Ebene – der Registerebene – eine durchgreifende Veränderung der deutschen Sprache vollzieht, die mindestens ebenso gravierend ist wie diejenige der Orthographie. Es muss in Deutschland insgesamt und auch von Seiten der Lexikographie erkannt werden, dass sprachliche Adäquatheit aus ungleich mehr besteht als aus korrekter Orthographie, auch wenn dieser ihre unleugnbare Bedeutung hier nicht abgesprochen werden soll.

Den sich zur Zeit im deutschen Sprachraum vollziehenden Wandel darf die Lexikographie nicht verpassen. Sie kann und soll hier zwar nicht in präskriptiver Form eingreifen, deskriptiv muss sie jedoch tätig werden, um den Sprachbenutzern deutlich zu machen, ob sie sich mit der Wahl dieses oder jenes Lexems, dieser oder jener syntaktischen Konstruktion, im Bereich des geschriebenen oder des gesprochenen Deutsch bewegen. Nur so können die Sprachbenutzer unabhängig, qualifiziert und kompetent entscheiden, ob sie ihre Wahl beibehalten oder korrigieren wollen. Die Lexikographie soll den beschriebenen Sprachwandel also nicht beeinflussen, sondern den Sprachbenutzern und –benutzerinnen fundierte Hilfestellung leisten.
Auf diese Weise kann auch für Universitätsdozenten eine Orientierung hinsichtlich einer größeren Sicherheit in der sprachlichen Bewertung der schriftlichen Äußerungen der Studierenden bereitgestellt werden, mit denen sie im Alltag konfrontiert werden. Damit kann den Unterrichtenden natürlich nicht die Entscheidung der Samnktionierung oder Nicht-Sanktionierung der von der Registernorm abweichenden Äußerungen abgenommen werden. Es kann ihnen in Form eines Wörterbuches, in dem die Kategorie gesprochensprachlich berücksichtigt wird, jedoch eine Argumentationsautorität in einem ansonsten diffusen Bereich der Sprachverwendung an die Hand gegeben werden. Auf diese Weise würde möglich, was gegenwärtig – da sich hinsichtlich einer als gesprochen- oder geschriebensprachlich zu qualifizierenden Äußerung der Studierenden nur deren eigene Meinung und die Meinung des Dozenten gegenüberstehen - unmöglich ist: die Studierenden zu einem besseren, sichereren Gebrauch ihrer Muttersprache zu führen und ihnen somit auch die Chance zu geben, ihre spätere(n) Fremdsprache(n) adäquater zu erlernen und zu verwenden.[8]
2.3 Didaktische Möglichkeiten

Zu den bisher dargestellten positiven Konsequenzen, die die Aufnahme der vorgeschlagenen Registerkategorie in die Wörterbücher des Deutschen nach sich ziehen würde, tritt ein weiterer Gesichtspunkt, der in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. Es handelt sich um die didaktischen Möglichkeiten, die mit der vorgeschlagenen Ergänzung verbunden sind und die in erster Linie ausländische Lernende betreffen.

So werden ausländische Studierende – unter der Bedingung, dass unsere Forderung in die Praxis umgesetzt wird - in Zukunft ungleich mehr Chancen haben als bisher, registerspezifisch adäquat zu sprechen und zu schreiben. Die von ihnen verfaßten schriftlichen Texte können sich durch die Kategorie gesprochensprachlich, mit deren Hilfe die Studierenden entsprechende Lexeme und Konstruktionen aus ihrer schriftlichen Sprachproduktion ausblenden können, mit großer Zuverlässigkeit im Bereich der schriftsprachlichen Norm bewegen. Die Gefahr besteht dann nicht mehr, daß diese Lernenden Lexeme verwenden, die nicht schriftsprachlich verwendet werden können, diese aber nicht als solche zu identifizieren imstande sind, weil lediglich solche Lexeme im Wörterbuch gekennzeichnet sind, die der Umgangssprache – also einer niedrigeren als der neutralen gesprochensprachlichen Registerebene – angehören. Auf diese Weise wird den Lernenden somit allein durch die Aufnahme dieser Kategorie zum einen eine erhebliche Bewertungssicherheit geboten; zum anderen müssen sie im Falle der Unsicherheit hinsichtlich der Verwendung eines gegebenen Lexems nicht mehr auf Ausdrücke rekurrieren, die im Wörterbuch dezidiert als schriftsprachlich ausgewiesen sind und die bei entsprechender Häufung in einem Text schwerfällig wirken und die Rezipienten schnell erkennen lassen, daß dieser nicht von einem Muttersprachler verfaßt worden ist. Dies bedeutet nichts anderes, als dass bei konsequenter Umsetzung unseres Vorschlages für diese Lernenden die Möglichkeit gegeben ist, ausschließlich solche Lexeme zu wählen, die in einem beschriebenen Text wirklich Platz haben. Sie tun dies aus der Sicht der Schriftsprache ex negativo und können zwar auch die Einträge verwenden, die als schriftsprachlich ausgewiesen werden, aber auch und besonders solche, die überhaupt nicht markiert sind und durch ihren neutralen Status sowohl schriftlich als auch mündlich verwendet werden können. Nur diejenigen Lexeme, die nicht der Schriftsprache angehören, dürfen sie nicht verwenden – und diese Lexeme sind dann als gesprochensprachlich ausgewiesen. Dies bedeutet, daß unser System für die schriftliche Textproduktion ausländischer Lerner eine enorme Hilfestellung bietet und ihre Texte mit großer Sicherheit erheblich zu verbessern hilft.
Hinsichtlich der mündlichen Textproduktion dieser Lernergruppe ist eine ähnlich große Verbesserung der erzielten sprachlichen Qualität zu erwarten. Dabei ermöglicht die Kategorie gesprochensprachlich die systematische Verwendung all jener Lexeme, die von deutschen Muttersprachlern dann, wenn sie mündlich kommunizieren, auch wirklich verwendet werden. Auf diese Weise werden die ausländischen Lerner von einer Tendenz weggeführt, die bei nahezu allen Fremdsprachenlernern zu beobachten, die aber nicht wünschenswert ist. Diese Tendenz besteht darin, daß sie weitgehend in der Weise sprechen, wie sie auch schreiben müßten bzw. wie deutsche Muttersparachler idealerweise schreiben . Dabei entstehen Texte, die keineswegs „mündlich“ wirken, die also ein zu hohes Stilniveau erreichen, als dass sie als authentische gesprochene Sprache gelten könnten. In diesem Falle gibt allein die Kategorie gesprochenspachlich – zusammen mit den nicht-markierten Wörterbucheinträgen des neutralen Registers – den Lernenden die Möglichkeit, sich auf zuverlässige Art und Weise eines Sprachniveaus zu bedienen, das als gesprochensprachlich adäquat angesehen werden kann: Ausschläge nach oben – also der Gebrauch eines für gesprochene Sprache zu hohen Registerniveaus – werden dabei durch die Kategorie Schriftsprache vermieden, Ausschläge nach unten durch die Kategorie Umgangssprache.

Aus diesen Ausführungen wird deutlich, dass die Sicherheit ausländischer Lerner hinsichtlich ihres deutschen Sprachgebrauchs allein durch die Kategorie gesprochensprachlich erheblich vergrößert werden kann. Es wird aber auch deutlich, welche Chance hier verpasst wird, wenn weiterhin auf die Aufnahme dieser Kategorie in die Wörterbücher des Deutschen verzichtet wird.

2.3 Abschließende Bemerkungen

In unserer Analyse ist deutlich geworden, welch großes Verbesserungspotential sowohl hinsichtlich der Qualität bestehender Wörterbücher als auch im Hinblick auf die Sprachproduktion sowohl deutscher Muttersprachler als auch ausländischer Lerner durch die Aufnahme einer einzigen Kategorie der Registerbewertung in die Wörterbücher des Deutschen erreicht werden kann. Angesicht der hier aufgezeigten, evidenten Zusammenhänge ist es verwunderlich, dass diese Verbesserungsmöglichkeit nicht viel früher erkannt worden ist.

Nun, da sie gesehen – und hier dargestellt – worden ist, sei an die großen Wörterbuchverlage und an die Wörterbuchautoren und –autorinnen ermittelt, die Kategorie gesprochensprachlich so rasch wie möglich in ihre lexikographischen Werke zu integrieren und dies auch mit entsprechender Akribie zu tun. Es eröffnet sich hier eine nicht allzu schwer umzusetzende und mit einem begrenzten Kostenpotential zu realisierende Aufgabe, die jedoch mit einem erheblichen Nutzen für die Reputation des einzelnen Wörterbuches wie auch für die Benutzerinnen und Benutzer verbunden ist. Eine solche Chance sollte unbedingt genutzt werden.

Bibliographie

dtv-Wörterbuch der deutschen Sprache (1987). Herausgegeben von Gerhard Wahrig, in Zusammenarbeit mit zahlreichen Wissenschaftlern und anderen Fachleuten. München.

Duden: Deutsches Universalwörterbuch (1989). Herausgegeben und bearbeitet vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter Leitung von Günther Drosdowski. 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage. Mannhein/Wien/Zürich.

Duden: Deutsches Universalwörterbuch (2003). 5., überarbeitete Auflage. Herausgegeben von der Dudenredaktion. Mannheim.

Holtus, G. / M. Metzeltin / C. Schmitt (Hrsg.) (1990): Lexikon der Romanistischen Linguistik (LRL). Vol. V, 1: Französisch – Le français. Tübingen.

Müller, B. (1990): Französisch: Gesprochene und geschriebene Sprache. In: Holtus/Metzeltin/Schmitt, 195-211.

Schank, G. / G. Schoenthal (1976): Gesprochene Sprache: eine Einführung in Forschungsansätze und Analysemethoden. Tübingen.

Söll, L. (31985): Gesprochenes und geschriebenes Französisch. Berlin.

Tinnefeld, T. (1992): Wörterbucharbeit im Fremdsprachenstudium – eine Fertigkeitsanalyse. In: Fremdsprachen und Hochschule (FuH) 34, 14-37

Tinnefeld, T. (1995f): Vorschläge zur Wörterbucharbeit an Schule und Hochschule. Teil 1: Hispanorama 71/1995, 139-141; Teil 2: Hispanorama 72/1996, 152-154; Teil 3: Hispanorama 73/152-155; Teil 4: Hispanorama 74/1996, 126-130.

Tinnefeld, T. (1999): Mängel in der Unterscheidung zwischen geschriebener und gesprochener Sprache im Deutschen als Fehlerursache beim schriftlichen Fremdsprachengebrauch. Aachen.
Wahrig, G. (1991): Deutsches Wörterbuch. Mit einem „Lexikon der deutsc hen Sprachlehre“. Herausgegeben in Zusammanarbeit mit zahlreichen Wissenschaftlern und anderen Fachleuten. Gütersloh/München.
Anmerkungen

[1] Unsere Forderung ist für zweisprachige Wörterbücher mit der Ausgangssprache Deutsch ebenso wichtig wie für einsprachige. Dennoch wird dieser Beitrag in erster Linie auf einsprachige Wörterbücher bezogen, da unsere Forderung im Hinblick auf diesen Wörterbuchtyp zunächst noch dringlicher erscheint und dort als erstes umgesetzt werden sollte. Die zweisprachigen Wörterbücher können ihre Bewertungen dann aus den entsprechenden einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen übernehmen und sich daran orientieren.
[2] Um dem Eindruck der Bevorzugung des einen oder anderen dieser Begriffe entgegenzuwirken, wurde hier die alphabetische Reihenfolge gewählt.
[3] Vgl. z.B. Duden-Universalwörterbuch (2003, 1704).
[4] Noch nicht einmal dies ist der Fall, denn bewerkenswerterweise figuriert der Begriff nicht im Wörterbuch (vgl. z.B. Duden-Universalwörterbuch 2003, 107), was zu kritisieren ist.
[5] Vgl. hierzu auch die Monographie „Geschriebenes und gesprochenes Französisch“ von Ludwig Söll, aus der die im romanischen Sprachraum vorhandene Bewußtheit für diese Unterscheidung deutlich hervorgeht.
[6] Die Argumentation soll jedoch nicht suggerieren, daß sich die Situation hinsichtlich der zentralen Kategorie dieses Artikels in der romanischen oder auch der französischen Lexikologie besser darstellt: Diese Kategorie fehlt auch dort in den gängigen Wörterbüchern.
[7] Eine ausführlichere Darstellung dieses Phänomens figuriert in Tinnefeld (1999).
[8] Dieser Gesichtspunkt gilt gleichermaßen für die sprachliche Situation, die sich an (weiterführenden) Schulen zwischen Schülern und Lehrern stellt.